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Ausstellungen von 2005 bis 2013

tanzende Figuren als Scherenschnitt

Schattenbild von Josef Madlener

Am Freitag, 25. November 2005, ist es so weit. Die neue MeWo-Kunsthalle in der Alten Post öffnet ihre Pforten. Das ist ein Freudentag für alle, die Lust an Bildern, Farben und Licht haben. Die gehören nun einmal zusammen, denn Bilder sind Farben und die Farben sind, nach Goethes berühmter Definition in seiner Farbenlehre, die „Taten des Lichts, Taten und Leiden.“ Was lag näher, als die Eröffnung einer Kunsthalle unter das Generalthema „Die Farben“ zu stellen. Grün und rot und gelb und blau und weiß und schwarz und pink und rosa .... jede Farbe ist „die Schönste“. Es gibt nur erste Preise!

Nach einer alten Auffassung gibt es auch das Farbenhören und das Musiksehen. Es soll Leute geben, die bei Blau ein D-Dur hören, und wieder andere, die bei einem C rot sehen. Sie können das selber ausprobieren, wenn sie im wechselnden Rhythmus der lockeren Atmosphäre einer Museumsnacht Musik von Couperin zu den verschiedensten Farben hören, wenn die Stadtkapelle Memmingen unter der Leitung von Jonny Ekkelboom aufspielt, wenn die Chorvereinigung Chrismós aus München unter Alexander Hermann vokale Sphärenharmonien zaubert und wenn die Sängerinnen Barbara Sauter und Margit Heinzelmann mit Vokalisen die Räume zum Klingen bringen. Ein literarisches „Rot, ein Grün, ein Grau“ sendet Joseph Kiermeier-Debre gelegentlich vorbei, und die Gastronomie des Hauses, erweitert um das Angebot eines Zeltes, wird das Ihre tun, Sie zu überraschen. Aber Vorsicht: Man muss ja nicht gleich essen und trinken, bis man blau ist oder rot anläuft!

Zu Formen gerät Farbe und Ton in Figuren und Körpern, und der Mensch als schönste Form tritt uns an diesem Abend in der Tanzperformance der KaRi-dance.COMPANY Kempten gegenüber. Genesis heißt ihr Programm und aus ihrer getanzten Schöpfungsgeschichte zeigen sie uns den sechsten Tag. Da war die Welt noch in Ordnung, die am siebten Tage sogar feiern durfte. Am Freitag, den 25. November, ist eine solche Feier, zu der alle herzlich eingeladen sind. Der Eintritt ist frei; geöffnet wird um 19 Uhr und um 23 Uhr, wenn das Haus schließt, lässt sich im Gastronomiezelt gewiss noch angemessen weiterfeiern.

"Der König ist tot, es lebe der König!" Das gilt auch für Josef Madlener (1881-1967) und galt ebenso für die Ausstellung seines künstlerischen Werks in der MEWO Kunsthalle Memmingen 2006. Die äußerst erfolgreiche Schau seiner Werke ging zwar zum November des Jahres zu Ende, aber für die darauffolgende Adventszeit zeigte die Kunsthalle als Epilog einen ganz speziellen Aspekt seiner Werkes, nun zu voller Größe geweitet: Madleners Weihnachtsbilder, jene Bilder, die ihn populär gemacht haben und die bis heute sehr erfolgreich sind. Alles Weihnachtliche aus seiner Hand, was die Stadt besitzt, war rund fünf Wochen lang zu sehen und die Zyklen "Ein Weihnachtsbaum kommt", "Verehrung des Christkinds", "Christus, der Retter ist da" und "Das goldene Buch" erschienen rechtzeitig zur Eröffnung der Sonderausstellung auch als ein dem großen Madlenerbuch korrespondierenden Weihnachtsbilderbuch im Brack Verlag. (siehe unter Publikationen)

Nicht genug damit. Vier zauberhafte Ausschneidebögen mit einer gut 40-figurigen Weihnachtskrippe aus der Hand des Weihnachtszauberers wurden ebenfalls zu einem großen Druckbogen vereinigt und sind seit Weihnachten 2006 im Angebot der MEWO Kunsthalle. Die ganze Familie kann sich da beim Ausschneiden bewähren. Um die Kinder wie die Erwachsenen staunen zu machen, wurde diese Krippe aber auch in ziemlicher Lebensgröße im Lichthof der Kunsthalle in einer richtigen Inszenierung aufgestellt. Diese Krippe durchschreitend, fand der Besucher der Sonderausstellung in der langen Erdgeschosshalle merkwürdige Geschenkpakete in einem noch merkwürdigerem Weihnachtszimmer. Sie wurden von der Bühnenbildnerin Rebecca Engelmann geschnürt und unter Tannenbäumchen gelegt, die dem Titel der Ausstellung alle Ehre gemacht haben dürfte: "Ein Weihnachtsbaum kommt". Eine Geschichte fast identischen Titels, "Ein Christbaum kommt", enthält auch das Josef Madlener Weihnachtsbuch: Sie stammt aus dem Nachlass seiner Tochter Julie und darf als indirekte Umsetzung der Bilder des Vaters ins Medium der Erzählung gelten. Sie wurde erstmals gedruckt und ist von der Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens geprägt.

Wenn der Besucher seine Neugier an den merkwürdigen Geschenkpaketen gestillt hatte, konnte er sich, bevor er in der ersten Etage gänzlich in Madleners Weihnachtsträumen verloren ging, anhand eines kleinen Rätselzettels Auskunft darüber geben, welches Paket aus dem eigentümlichen Weihnachtszimmer ihm in welchem Bild des Malers erneut begegnet ist. Die Weihnachtsausstellung war damit aber noch nicht zu Ende, im zweiten Stock, in der Graphikabteilung, wurden nostalgische Weihnachts- und Neujahrskarten in Hülle und Fülle gezeigt, also viele Erinnerungen an Opa und Oma und an ein Weihnachten, als diese auch noch jung waren.

Von Anfang Februar bis Dezember 2007 zeigte die von Dr. Hans-Wolfgang Bayer (Kulturamt), Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre (MEWO Kunsthalle) und Dr. Fritz Franz Vogel (Zürich) konzipierte und kuratierte Chinaausstellung in der MEWO Kunsthalle Memmingen über 50 großformatige Fotoarbeiten von Qingsong Wang, dem Shootingstar der aktuellen chinesischen Kunstszene. Seine Arbeiten waren erstmalig in ihrer Gesamtheit in einer Werkschau in Deutschland zu sehen. Sie wurden kombiniert mit 13 Terrakotta-Figuren bzw. Figurengruppen, die anlässlich der 48. Biennale in Venedig nach einem weltberühmten chinesischen Projekt der Maozeit, dem sog. "Hof zur Eintreibung der Pacht", entstanden waren. Teile des mit dem Goldenen Löwen prämierten vielfigurigen Projekts wurden nach der Biennale von den Keramikern Lee Babel und Alessio Tasca für das "Museo Civico della Ceramica" in Nove/Italien erworben. Durch den Brand der Figuren haben sie ihnen eine definitive Ästhetik geschaffen. Auch diese Arbeiten, die unter Anleitung des chinesischen Künstlers Cai Guo-Qiang durch ein Team chinesischer Bildhauer während der Biennale 1999 realisiert wurden, waren zum ersten Mal außerhalb Italiens zu sehen.

In ihrer Verbindung zeigten die ausgestellten Werke im Medium der Kunst die rasante Entwicklung Chinas in den vergangenen Jahrzehnten von Konfuzius zu Marx und Mao einerseits, aber auch zu Coca Cola und zur kommerziellen Warenwelt der westlich-industriellen Zivilisation andererseits. Das ganz in der "Sprache der revolutionären Massen" gestaltete skulpturale Ensemble, das in Kopien und Nachbildungen auch in anderen sozialistisch-maoistischen Bruderstaaten wie Albanien und Vietnam Anerkennung und Verbreitung fand, erinnert in der traditionellen Technik chinesischer Tonfiguren an die Armee der Terrakotta-Krieger des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi (259-210 v. Chr.). Es beschreibt einen Zustand chinesischer Wirklichkeit, die der Fotokünstler Qingsong Wang heute als eine sich rasant verändernde Umgebung wahrnimmt. In großformatigen, opulent beladenen, teils riesigen Fotoplakaten in traditionellen Techniken der chinesischen Malerei spielt er mit der europäischen Kunstgeschichte und integriert in tief verwurzelter Protesthaltung gegenüber allem "Offiziellen" auf skurril und farbenfrohe Weise die Warenzeichen des Kapitalismus der westlichen Welt mit Witz und Ironie in seine Bilder.

Die Werkgruppen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, weisen dennoch einige Gemeinsamkeiten auf. Beide sind völlig unbeeindruckt vom europäischen Weg in die Abstraktion. In beiden steht der Mensch im Mittelpunkt, der sich fast immer im Kontrast von plastischer Dreidimensionalität und fotografischer Zweidimensionalität zu seiner vollen Lebensgröße in horizontal breit ausgerichteten Panoramaformaten erhebt. Reizvoll ist auch der Kontrast in Materialität und Farbwirkung, nicht minder der von Pathos und witzig-ironischem Zitatenspiel.
Der übergreifende Gesamttitel der Ausstellung - Past, Present & Future - wurde einem Triptychon Qingsong Wangs aus dem Jahr 2001 entlehnt. In dieser Arbeit ist Chinas Weg aus der Vergangenheit Maos als traditioneller Bildtopos vom Dreischritt aller Geschichte dargestellt. Die Ironie Wangs lässt jedoch auch die romantische Lesart dieses Bildtopos zu. Hier steht das Goldene Zeitalter am Beginn aller Geschichte, die dann von ihren Verlusten gezeichnet ist und von der Anstrengung, wieder in ihren Ursprung zurückzukehren.

Die Ausstellung, gefördert durch die Pfeifer Holding GmbH & Co. KG und in Medienpartnerschaft mit B5 aktuell, wurde am Samstag, den 3. Februar 2007, im Beisein seiner Exzellenz Huiqun Yang, dem Generalkonsul der Volksrepublik China, und in Anwesenheit der Künstler aus Italien und Peking eröffnet.

Als nächstes Projekt zeigt das Haus, das sich in den gut zwei Jahren seit seinem Bestehen besonders durch seine eigenwilligen Präsentationen einen guten Ruf erworben hat, die Fotografien des mecklenburgischen Barons Wilhelm von Gloeden (1856-1931) aus der Sammlung Heinz-Peter Barandun in Zürich. Es ist die weltweit größte Sammlung von Werken dieses Pioniers der künstlerischen Aktfotografie und sie wird in Memmingen, begleitet von einem prächtig gestalteten Bild-band mit gut 800 Werken, zum ersten Mal im großen Stil präsentiert. Die Verfasser des Bildbandes, der Fotohistoriker Dr. Fritz Franz Vogel aus Zürich und der Leiter der MEWO Kunsthalle Memmingen, der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre, sind auch als Kuratoren für die Ausstellung verantwortlich, in der sie etwa 400 Arbeiten Gloedens zeigen.

Die arkadische Situation, in der Gloeden ab etwa 1880 in Taormina neben Landschaften Tausende von Aktstudien schuf, versucht die Ausstellung auf ihre Art einzufangen. Zunächst empfängt den Besucher das Panorama Taorminas und des dortigen griechischen Theaters, in dem die klassizistischen Vorbilder des Künstlers eingestellt sind. In deren Mittelpunkt steht der Apollo von Belvedere, an dem Johann Joachim Winckelmann sein Schönheitsideal entwickelt hat.

Erst dann gibt die Ausstellung den Blick frei auf die diesem homoerotisch inspirierten Ideal verpflichteten Bilder Gloedens, die ihr Thema – eine pubertätsspezifische Homoerotik zumeist unbekleideter junger Männer in erstaunlich freiem Umgang mit ihrem Körper – mit lebenslang nie ermüdender fotografischer Neugier verfolgen. In diesen Bildern verwandelte und veredelte der Künstler mit viel inszenatorischem Geschick und Stilisierung die sizilianischen Bauernjungen zu arkadischen Schäfern und – Anstoß geschieht oder geschieht nicht! – mitunter zu umstrittenen Schönheiten.

„Ein beglückend schräges Buch“ lobte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (16.02.2007) in einer großen Besprechung den opulenten Bildband über Josef Madleners Bilderkosmos, der ab Ende 2005 ein Jahr lang etwa 20.000 Besucher in der MEWO Kunsthalle begeistert hatte. Die anschließende Ausstellung „Josef Madlener - Ein Weihnachtsbaum kommt“ verzauberte ebenfalls viele tausend Besucher, und das gleichzeitig erschienene „Goldene Buch“ mit den Weihnachtsbildern und der Weihnachtskrippe von Madlener erfreute sich einer so großen Nachfrage, dass es binnen kürzester Zeit ausverkauft war. Beide Bücher sind seit einiger Zeit nachgedruckt und in zweiter Auflage in der MEWO Kunsthalle erhältlich.

Der Werkkosmos des Allgäuer Farbmagiers und Mystikers wird ab 14. Dezember 2008 mit einem weiteren Ausstellungsprojekt abgerundet, das mit Mystik und Farbmagie eher nichts zu tun hat. Gleichwohl erfreuen sich die Bilder dieser Werkgruppe wie die Weihnachtsbilder bis heute einer großen Beliebtheit beim Publikum. Es handelt sich um Josef Madleners sogenannte Schattenbildern, die in vergleichbarer Manier wie die Weihnachtsbilder in der Ausstellung der MEWO Kunsthalle inszeniert sind. Sie zeigen den Künstler auch in dieser Disziplin als einen Meister, der mit den Besten seiner Zeit auf den obersten Rängen des Olymp konkurrieren kann.

Die Sujets und Themen sind dem Alltag der Menschen, ihrer Arbeit und ihren Festen abgelauscht. Es handelt sich bei diesen Tuschzeichnungen um vielfigurige und unglaublich detailverliebte Kompositionen, in denen die Farben bzw. die Nicht-Farben „Schwarz“ und „Weiß“ das ausschließliche Sagen haben. Aber nicht nur in den Bildern Josef Madleners haben „Schwarz“ und „Weiß“ das Sagen, sondern die Ausstellung macht sich diesen Gegensatz auf witzig-spielerische Weise selber zu einem Thema. Zusammen mit den Bildern garantiert es bei Jung und Alt ein unvergleichliches Ausstellungserlebnis mit vielen Überraschungen.

Die Ausstellung, die am 5. Oktober anlässlich des 200. Todestags von Johann Gottlieb Prestel in der MEWO Kunsthalle eröffnet wird, zeigt den Gesamtbestand der Sammlung von Dr. Walter Prestel (Schwelm bei Wuppertal). Die knapp 200 reproduktionsgraphischen Blätter der Goethezeit sind das größte Prestelkontingent, das es weltweit gibt. Es wurde 2003 vom Sammler über die Vereinigten Stipendienstiftungen der Stadt Memmingen zur Nutzung vermacht.. Das hat Gründe. Johann Gottlieb Prestel war ein gebürtiger Grönenbacher, das zu damaliger Zeit zum Bezirksamt Memmmigen gehörte; der Sammler selbst ist gebürtiger Augsburger mit schwäbischen Wurzeln.

Nicht genug damit; die Präsentation dieses Werks in Form einer Ausstellung und die Darstellung unter Mitarbeit renommierter Beiträgerinnen in einem wie immer vorzüglich gestalteten Bildband der MEWO Kunsthalle durch Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre (Memmingen) und Dr. Fritz Franz Vogel (Zürich) erinnern erstmals in großem Stil an ein lange vergessenes Kapitel der Kunstgeschichte. Die Prestels hatten sich auf dem Gebiete der Reproduktionsgrafik zu den unbestrittenen Meistern dieser Kunst entwickelt. Ihre Blätter und Mappenwerke wurden gerühmt und waren begehrt nicht nur in Deutschland. Es gelang ihnen drucktechnische Verfahren zu entwickeln, durch die sie täuschend echte Nachahmungen berühmter Meisterzeichnungen der italienischen, der altdeutschen und der holländischen Schule herstellen konnten. In ihnen vermittelten sie dem sich erweiternden Kreis der Kunstfreunde des 18. Jahrhunderts auf verdienstvolle Art und Weise einen Zugang und ein vertieftes Verständnis für die Kunst von Dürer, Altdorfer, von Raffael oder Rubens.

Ein Künstlerpaar wie die Prestels war im 18. Jahrhundert alles andere als eine Selbstverständlichkeit, und so gibt es neben dem vergessenen Kapitel der Reproduktionsgrafik der Prestels noch die zusätzliche Entdeckung zu machen, dass Maria Katharina Prestel und ihr künstlerisches Werk ein frühes Beispiel einer eigenständigen und sogar international erfolgreichen weiblichen Karriere darstellt. Sie war ihrem Mann Johann Gottlieb Prestel, den sie nach seinen Jahren in Italien 1772 in Nürnberg geheiratet hat, in jeder Beziehung ebenbürtig. Ihre gemeinsame Werkstattproduktion, die sie 1782 von Nürnberg nach Frankfurt verlegten, von wo aus Maria Katharina 1784 nach London ging, besitzt in der Behandlung der mythologisch-unheroischen und der sentimental-modernen Themen der Zeit durch ihren geschlechtsspezifisch differenzierten Blick einen außerordentlichen Reiz.

Wolfgang Niesner (1925–1994) war ein „besessener Graphiker, der in Radierung, Mezzotinto und Kupferstich, selbst im Scherenschnitt, gleichermaßen Gültiges geschaffen hat und für den zeichnen so wichtig wie atmen war, ein Mittel, Welt und Natur zu erleben und zu gestalten.“ Das schrieb die Zeitschrift Graphische Kunst 1995. Die Charakterisierung ist trefflich und bedarf dennoch einer Zuspitzung, die die neue Ausstellung in der MEWO Kunsthalle zu leisten versucht. Sie zeigt zum ersten Mal weit über 1000 Zeichnungen mit Porträts und Selbstporträts des Künstlers.

Im Gegensatz zum langsamen, sich herantastenden Arbeiten mit den Werkzeugen des Kupferstechers erlaubte der skizzierende Zeichenstift eine geradezu atemberaubende Schnelligkeit, gewissermaßen den Schnappschuss, wie ihn der fotografische Apparat ermöglichte. Solche Schnelligkeit schien Wolfgang Niesner besonders dort von Vorteil, wo es galt, möglichst schnell und unauffällig Menschen zu erfassen, ihnen einen zufälligen Augenblick abzutrotzen und vor allem ihrer Mimik zu Leibe zu rücken. Die Objekte sollten am besten nichts wissen vom sie beobachtenden Auge und bannenden Stift des unscheinbar freundlichen Nachbarn und Mitmenschen.

Auf diese Weise entstanden tausende und abertausende vom Künstler selbst Kopfstücke genannte Blätter und Blättchen. Zu entdecken und zu bestaunen ist eine Obsession, die, wenn der Künstler nicht von so menschenfreundlichem und verbindlichem Charakter gewesen wäre, ans Pathologische eines lange verkannten Künstlers wie Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783) rührte. Wolfgang Niesner war sich solcher Verwandtschaft bewusst, nicht nur, weil er das Gesicht als die interessanteste Landschaft erachtete, sondern weil er vor sich selber nicht halt machte und auch sein Gesicht unermüdlich zum Gegenstand seiner Beobachtung machte. Morgens vor dem Spiegel und oft dreimal täglich vermaß er sich selbst und spielte alle Möglichkeiten seiner Mimik durch. Sie war der Probierstein für Mimikry jeglicher Art. Er verwandelte sein „Ich“ in Grimassen, Visagen, Fratzen und Schnuten zu Charakterköpfen, die die Extreme menschlicher Mimik auszukosten versuchten und gleichsam ein mimetisches Grundmusterbuch entwarfen.

Peter Müller aus Irsee ist ein Künstler, in dessen plastischem Schaffen es von Geflügel und Gehörntem, von Insekten und Wassergetier nur so wimmelt. Sein mittlerweile mehrere tausend Arbeiten umfassendes Figurenwerk aus Eisen und Altmetall – Schrott vom Feinsten – bietet eine geschöpfliche Welt ganz eigener Art. Seine witzige Geschichte der Evolution weiß lange Zurückliegendes und Vergangenes mit Zukünftigem und ins Fantastische Extrapoliertem virtuos zu verbinden

Nun, zum 200. Geburtstag von Charles Darwin, dem kühnen Entwerfer der Evolutionstheorie, mit der er die Welt revolutionierte, kommt es bei Peter Müller zum künstlerischen Schwur. Alle seine Tiefseegräten, Brillenschlangen, Hechtlinge, Insekten, Hammerhaie, Löffelpfaue, Rohrdommeln, sein Pflugwild, seine Fischstäbchen, Tankenten, das Federvieh, die Sitzgiraffen, seine Ge(h)nmanipulationen und seine FranzSchubertForelle schicken eine Delegation neuer ARTen zur Geburtstagsparty in der MEWO Kunsthalle.

Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung, mit der die MEWO Kunsthalle ins fünfte Jahr startet, steht ein Projekt des Kölner Kunstsammlers Dr. Hartmut Kraft. Er ließ von 25 renommierten Künstlerinnen und Künstlern je ein großformatiges Faksimilebuch mit dem 1463 von Bernd Notke gemalten Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck künstlerisch überarbeiten. Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Werk des spätmittelalterlichen Meisters lebt in den Überzeichnungen, den Übermalungen und den Bearbeitungen von Enrique Asensi bis Giampiero Zanzi, gar einer Verbrennung von Peter Gilles höchst lebendig und gegenwartsnah weiter. Zahlreiche weitere Objekte und viele Totentanzarbeiten, angefangen bei Hans Holbein d. J., Daniel Hopfer oder Matthäus Merian d. Ä. im 16. Jahrhundert bis zur klassischen Moderne mit Beiträgen zum Thema von Ernst Barlach, Alfred Kubin, Max Klinger oder Alfred Rethel ergänzen die Kernidee der Ausstellung. Unterm Strich macht das gut hundert Arbeiten von etwa fünfzig Künstlerinnen und Künstlern.

Als materielles Substrat schält sich aus dem Traditionsthema des Totentanzes das menschliche Skelett jenseits aller Metaphysik als relativ dauerhafter Restbestand des menschlichen Körpers heraus. Genau dieser menschliche Körper – Everybody – interessiert uns an der Schnittstelle, am Übergang vom noch begehrenswerten und geliebten Objekt/Subjekt zur schreckenverursachenden Sache, zur Leiche, die bei aller Pietät in gesellschaftlich ungeliebten und verborgenen, wenngleich geschützten Räumen der Gesellschaft (Pathologie, Seziersaal, Leichenschauhaus, Krematorium, Friedhof, Anatomie, Plastination) materiell entsorgt werden muss.

Der Focus dieses Themas wird nicht auf der Entsorgung des Körpers als Leiche an sich liegen, sondern auf Darstellungen, die die Reflexion in Bewegung setzen, wenn wir Körper, gegebenenfalls unseren Körper – everybody dies, but me! –, in dem unser Ich sich gut zu Hause fühlt, als Leiche denken. Deshalb wird die Ausstellung im Entree uns mit Abbildungen der Mumien von Palermo und mit einem Totentanz von 30 lebensgroßen Skeletten konfrontieren. Sie wird uns dann in einen Anatomiehörsaal, ein sog. Anatomisches Theater versetzen, in dem unsere Physis mitleidlos und sachlich in filmischer Präsentation abgehandelt wird. Vor dieser Abhandlung soll die äußerst merkwürdige Geschichte von Schneewittchen im gläsernen Sarg stehen, in der die Ambivalenz von noch körperlicher Schönheit und Leichentabu vorgestellt ist (Christiana Glidden: Death of Replicant, 1998).

Schneewittchen ist „nur“ eine Untote; sie braucht vielleicht den Flickwerker, den Schönheitschirurgen. Die wirklich toten Körper aber brauchen den Bodyworker, den Entsorger, den Abdecker, den Anatomen. Von den Darstellungen des flämischen Anatomen Andreas Vesalius, über das Röntgenauge bis zur Plastination menschlicher Körper wird der Blick des Besuchers geführt werden, der die Ambivalenz der sezierenden Bemühung um den Menschen – um das, was er ist, wenn er ist – erkennen soll: Studium an der Leiche zur medizinischen Vorsorge für den menschlichen Leib und Nachsorge an der Leiche als kriminalistische Aufklärung über die Verletzungen des Körpers zum Tode. Ein sehr intensiver Film, „Weg nach Eden“, wird von diesen verschwiegenen Abenteuern unserer Körperlichkeit erzählen, wie die Ausstellung auch ansonsten sich tapfer den Abenteuern unserer Körperwerdung von unserer Geburt bis zur Entsorgung des irdischen Rests stellt. Neben sehr eigenwilligen Aktfotografien von Gary Schneider, die mit der Grenze zwischen Körper und Leiche spielen, kann der Besucher sowohl vor den Totenporträts aus der Zeit um 1900 aus einer bürgerlichen Schweizer Sammlung eine existentielle Selbstbefragung veranstalten, als auch vor den zeitgenössischen Fotografien Sterbender und Verstorbener des Hamburger Fotografen Walter Schels sein persönliches „memento mori“ formulieren. Auch die „Visages de Morts“ von Rudolf Schäfer werden starke Akzente auf diese Thematik des letzten Bildes setzen. Die Bilder des menschlichen Körpers als Leiche der Amerikanerin Elizabeth Heyert (Travellers, 2006) bannen dagegen den postmortalen Körperkult Amerikas in stärkstem Kontrast zu unserem europäischen Bild vom Körper als Leiche, während die Bilder des Malers Jörg Madlener Liegende und Gesichtslose als glatte Gegenbilder zu einem Tod à la Hollywood zeigen.

Hier wie überall sonst gilt der Grundsatz, den die MEWO Kunsthalle mutatis mutandis in allen Ausstellungen bisher durchzuhalten versucht hat: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. Das gilt auch für die unzähligen fiktiven Leichen, die die harten Kriminalfälle ins schaurig Unterhaltsame spielen wie die großformatigen Bilder des japanischen Starfotografen Izima Kaoru (landscapes with a corpse). Er verdrängt das factum brutum unserer Körperlichkeit dekorativ ins Märchen von Schneewittchen. Auch die Todesartenserie von Claudia Reinhardt (Killing me softly), die wirkliche Übergänge, Selbstmorde berühmter Frauen, nachempfindet, gehört hierher. Bleibt am Ende dieser von dem Schweizer Dr. Fritz Franz Vogel und Kunsthallenleiter Prof. Dr. Kiermeier-Debre kuratierten Ausstellung eine ironische Replik auf Damien Hirsts brilliantenbesetzten Totenkopf, der zeigt, dass die Furie des Somatischen keine Barmherzigkeit kennt. Kein Preis der Welt verhilft zur Rettung vor ihr. Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?

Franz Kafka betrachtete sein Schreiben in einer Notiz von 1920 „als eine Form des Gebets“. Er hat viel geschrieben und mithin viel gebetet. Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung, mit der die MEWO Kunsthalle ins sechste Jahr startet, stehen Künstler, für die die Variation des Kafka-Wortes gelten mag: Ihr Zeichnen oder Malen sehen sie nicht minder als eine Form des Gebets, ja sogar als eine mediale, aus dem Unbewussten gelenkte künstlerische Tätigkeit (es betet, wenn sie sprechen / zeichnen / malen). Diese Vorstellung ist uralt, und wenn in solch mystischem Vorgang geheimnisvolle Inhalte entstehen, so scheint das nur recht und billig.

Die von Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre (MEWO Kunsthalle) konzipierte und kuratierte Ausstellung versucht einerseits dem Phänomen unbewusster Steuerung künstlerischer Schaffensprozesse nachzugehen und andererseits deren kryptische Ergebnisse zu präsentieren. Sie versammelt Arbeiten in Formen und Farben, die sich dem magischen, anagrammatisch erzeugten lateinischen Satz zu unterwerfen scheinen: ROTA TARO ORAT TORA ATOR (Das Rad des Tarot kündet das Gesetz der Einweihung). Gruppiert um die verblüffenden medialen Arbeiten von Josef Madlener (1881-1967) gibt es in der MEWO Kunsthalle gut 20 zeitgenössische kubanische und russische TAROT-Zyklen in unterschiedlichen Techniken zu sehen (in der Regel besteht ein Tarot aus den sog. 22 Arkana, mithin also gut 300 Arbeiten). Darüberhinaus bietet das Haus eine repräsentative Auswahl aus den Arbeiten des Münchner Malers und Objektkünstlers Ugo Dossi (*1943), der sich seinerseits mit den Möglichkeiten des automatischen Zeichnens beschäftigt. Daneben zeigen wir seine Tarot- und Orakelbilder. Kompletiert wird die Werkschau durch den Düsseldorfer Maler Robert ROTAR (1926-1999), der seinen Künstlernamen zum Programm gemacht hat und der auf seine Art und Weise höchst meditativ, mit Konzentration auf Kreis und Spirale, das Terrain des Kosmos auszuloten versuchte.

Spirituelles Geschehen in einem aus den Traditionen der Astrologie, der Alchemie, der Kabbala oder der Theosophie gespeisten Akt in ein mediales Ergebnis zu konzentrieren, ist eine Seite des Vorgangs und fordert unser philosophisches, symbolisches und kunsttheoretisches Vermögen heraus. Es ist ästhetisches Werk, Artefakt, es ist Kunstwerk geworden. Dass das Rad des Tarot zu wie auch immer gearteten Aussagen über die Zukunft, über unsere Stern- und Schicksalskonstellationen oder als Initiationsweg etc. benutzt wird, ist die andere, aber für die künstlerisch-kritische Betrachtung eher nebensächliche Seite der Angelegenheit. Die Ausstellung wird auch – wie es beliebt! – diesen Interessen reiches Anschauungsmaterial bieten, aber in ihrem Zentrum stehen vorrangig die ästhetisch überzeugenden Ergebnisse spielerisch-künstlerischen Umgangs mit den Möglichkeiten, die der Zufall aus den Tiefen des Unbewussten ans helle Licht des Bewusstseins hebt. Und wie immer bei den Ausstellungen der MEWO Kunsthalle wird der Lichthof als ein spannendes Entree in die einzelnen Gebetsabteilungen der ästhetischen Kirche gestaltet sein, für die Schillers berühmter Satz gilt: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“

Auch sie betet, wenn auch etwas anders: Roswitha Asche, die in Berlin geborene und in Kassel und Frankfurt ausgebildete Zeichnerin und passionierte Dokumentaristin. Parallel zur neuen Ausstellung der MEWO Kunsthalle wird im Grafikkabinett eine Sonderausstellung mit ihren Arbeiten unter dem Titel „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eröffnet. Roswitha Asche betet, sprich, sie vermaß in hoher Exaktheit eine Welt auf ihre Künstlerweise, indem sie sich zeichnend und malend ihrer Erscheinungen annahm; zumeist sind ihre Spuren danach lautlos verschwunden. Hingebungsvoll hat sich ihr Zeichenstift vor allem der bäuerlichen Lebensweise und Lebenswelt Südtirols gewidmet, einer untergegangenen Epoche von stiller, schlichter Größe und Einfachheit. Die Kunstfertigkeit aber, mit der Roswitha Asche sie poetisch souverän dokumentierte, mit der sie ihr Verschwinden festhielt, ist ein großes künstlerisches Vermächtnis, in dem der Begriff „Vergänglichkeit“ seine Offenbarung erhält. Genauigkeit und Exaktheit sind dabei nicht als Gegensätze zu „poetisch“ zu verstehen, sondern als eine Grundbedingung für den Zauber ihrer Arbeiten. Was auch immer dieser Welt notwenig und nützlich war, hat sie liebvoll mit virtuoser Hand festgehalten: Geschirr und Gläser, Werkzeuge und das, was der Garten hervorbringt, was das Haus innen ziert und schmückt und was Hof und Stall nach außen zu einem Ereignis von praktischer Schönheit macht. Viele tausend Blätter, von denen die Kabinettausstellung eine repräsentative Auswahl bietet, sind im Laufe intensiver Jahre entstanden, die zusammen ein imaginäres Bauernhofmuseum von stattlicher Größe darstellen, in dem nicht das Unbewusste, sondern hohes Bewusstsein des Wirklichen Ereignis wird.

Fünf Tonangeber, die Vokale, und ihre 21 Gesellen, die Mitlaute, nannte man von alters her gerne die 26 Buchstaben des Alphabets. Sie sind als die Ur- und Grundelemente, mit denen alles Gedachte und Gesprochene aufs Papier kommt, durch die die unendliche Menge des Geschriebenen und die Literatur entsteht, beileibe kein Kinderspiel. Nicht dass die Welt ohne Buchstaben nicht bestehen könnte, aber so wie sie besteht, ist sie ohne das Alphabet nicht mehr denkbar und nicht verstehbar. Über das Alphabet, die Buchstabenreihe und die Einzelbuchstaben in unendlichen Variationsreihen offenbart sich die Welt und der Mensch. Die Schrift ist eine der glanzvollsten Leistungen des menschlichen Erfindungsgeistes und mithin ist die Buchstabenreihe einer lebenslangen Begegnung wert!

Mit Eintritt in die Schule können die meisten Kinder die magische Liste des Alphabets aufsagen (vor allem vorwärts!) und verbinden Buchstaben mit einer bestimmten Form. In diesem Alter haben die Kinder aber weit mehr gelernt als nur 26 Buchstaben. Mit den Bildmustern entziffern wir fortan viele Schrift- und Bildvarianten von der einfachen geometrischen Strichform, über die kalligraphische Handschrift und fein ziselierte barocke Initialen, über den Reichtum der Typographie seit Gutenberg bis hin zu geheimnisvollen Wortmarken der Werbung von heute. Diese Meisterleistung der (Er)kenntnis, die clevere Kombinatorik der reinen, willkürlich gereihten Mathesis, ist für jeden ABC-Schützen im wahrsten Sinne des Wortes die eigene Mündig-, ja Menschwerdung. Die 26 Lettern sind das ästhetische Fundament für das (schöne) Schreiben wie auch für die literarische Produktion, dafür, wie Welten im Dichten entstehen, die es gar nicht gibt.

Die Ausstellung der MEWO Kunsthalle zu Alphabet, Buchstaben, Calligraphie und zu Typographie, kuratiert von Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre und Dr. Fritz Franz Vogel, will eine Begegnung der ganz eigenen Art mit dem Thema sein. Sie holt die Vielfalt der Buchstaben ans Licht; historisches, zeitgenössisches, künstlerisches, didaktisches, originales und reproduziertes Material wird in einer vielfältigen, teilweise interaktiven Schau aufbereitet, ohne dass die Ausstellung eine Einführung in die Geschichte der Schriftentwicklung sein möchte und ohne dass sie auf pädagogisch-didaktische Vermittlung aus sein will. Sie wird nichts zu tun haben mit den Mühen des Lese- und Schreiberwerbs, sondern sie wird der puren Lust am Buchstaben frönen, mit der die Lettristen der ganzen Welt die schlichten Grundformen – Schrägstrich nach oben, Schrägstrich nach unten, Querstrich = A – in eine unglaubliche dekorative Fülle verwandeln. Der Gestaltungsreichtum dieser LETTERATUR tobt durch die Jahrhunderte, kennt den Buchstaben als farbenprächtig gemalte Initiale, kennt seit Erfindung des Buchdrucks den Buchstaben als Holzschnittminiatur, kennt den Buchstaben als opulentes Kupferstichblatt und in der Fülle der Schreibmeisterbücher, schafft buch-künstlerische Wunderwerke im 19. Jahrhundert, bestimmt Graphiker und Designer bis in die Gegenwart zu verblüffenden Präsentationen, in denen Buchstaben schier alles werden können, was man sich nur denken kann. Umgekehrt gibt es neben den Gestaltern die Entdecker, die hinter allem in der Welt Buchstaben lauern sehen, die sie auf Schmetterlingsflügeln entdecken, oder vom Flugzeug aus in der Landschaft, oder auf den Vehikeln, die die Autobahnen der Welt verstopfen. Wieder andere Alphabeten haben nichts besseres zu tun, als die Welt nach dem Abc zu ordnen. Die willkürliche Reihe der Buchstaben ist für sie das eherne Gesetz. Das Alphabet ordnet die Dinge der Welt im Lexikon, in der Enzyklopädie, in den Abecedarien vom Mittelalter bis heute. Dort wird der Himmel nicht anders geordnet, wie die Geschenklisten zur Hochzeit, wie das Schimpfen und Fluchen (Schimpfwörter- und Fluchalphabet), wie die Wellness-Begriffe von Ayurveda bis Yoga und Zerstreuung.

Etwa 8000 gestaltete, figurierte und dekorierte Buchstaben wird die Schau aufbieten, die neben der mittlerweile hochgeschätzten Ausstellungsinszenierung der MEWO Kunsthalle diesmal auf zwei Sammlungen von außerordentlicher Güte zurückgreifen kann. Zum einen gibt es aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek die schönsten historischen Alphabet- und Schreibmeisterbücher vom 16. Jahrhundert bis heute. Italienische, englische, französische, holländische, spanische und vor allem deutsche Kunststücke und Muster der schönsten Zierschriften und wunderlichsten Beispiele für Buchstaben und Alphabete werden da zu sehen sein. Zum anderen wird die herrliche Sammlung von Julia Vermes, einer Schweizerin ungarischer Herkunft für Staunen sorgen. Sie hat weltweit mehr oder weniger aktuelle Beispiele zum Thema zusammengetragen, herrliche ABC-Bücher und Buchobjekte, kurz alles, was eine überbordende Phantasie geschaffen hat.

Buchstaben verwandeln sich in Menschen oder Häuser, Tiere in Buchstaben oder Bäume in Schrift, die Dinge werden Text, der Text wird Bild: Es gibt unendlich viel zu lesen, aber alle Besucher im Alter von vier bis hundert können mühelos alles lesen und herrliche Entdeckungen machen. Den Grundtext, das Abc, gibt es sogar zum Essen als Russisch Brot, als Kroketten oder als bunte Kau-Gummi-Buchstaben und als Buchstabensuppe.

Wir kennen viele Wörter, die eine bestimmte Gruppenformation bezeichnen: Aufmarsch • Bande • Chor • community • Defilee • Ensemble • Familie • Geschwader • Harem • Innung • Jury • Klüngel • Legion • Menschenkette • Nachhut • Orden • Prozession • Rudel • Seilschaft • Tross • Unmenge • Vorstand • Warteschlange • Zug… und das sind nur ein Bruchteil. In der Fotografie ist seit 1840 eine Vielzahl solcher Formationen dokumentiert.

Klassisch ist die Vereinsfotografie, die mit ihren vielfältigen Anordnungen und schmückenden Objekten nicht zuletzt zur Selbstdarstellung und Standesrepräsentation hergestellt wurde. Bekannt sind auch all die familieninternen Feiern, bei denen man zusammenkommt und sich austauscht. Hierbei hat das Gruppenbild Erinnerungscharakter und dient als visueller Verstärker der Verwandtschaft. Auch im Sport hat sich das Gruppenbild weitgehend gehalten, auch wenn es sich in seiner Strenge, ähnlich wie in der überaus traditionsreichen Schulklassenfotografie, etwas gelockert hat, aber immer noch der magischen Selbstvergewisserung und dem sozialen Zusammenhalt dient. Interessant sind die militärischen Formationen, die ganz unterschiedliche Größendimensionen aufzeigen und je nach Gleichschritt und Uniformierung eine angsteinflößende Massierung und Macht darstellen.

Dass heute der Mensch als beweglicher Pixel gebraucht wird, um damit Bilder herzustellen, wissen wir mindestens seit den Darbietungen olympischer Eröffnungszeremonien. Auch dass man damit ganze Bilder und Texte schreiben kann, wissen Werbestrategen zu nutzen. Oft sind wir bei Sitzungen aufgereiht, um eine Zeigesituation versammelt oder fühlen uns in der Menschenkette stark, ohne dass wir uns bewusst sind, dass wir einer homogenen Gruppe angehören und selbstbestimmte Ziele vor Augen haben. Dann wieder einigt bloß die Cadrage der Fotografie die amorphe Masse. So gehören beispielsweise Tischsituationen zum Standardrepertoire, weil die Tafelrunde ein kommunikativ-demonstrativer Platz par excellence darstellt, ähnlich einem Denkmal, um das herum man sich gerne gruppiert, um sich in die Geschichte des Ortes einzureihen.

Eine wesentliche, oftmals verkannte Gruppe ist die der Zuschauer, die stetig wächst, vor allem wenn man bedenkt, dass Gemeinschaften ganz unterschiedlicher Art vermehrt ihren Nachwuchsmangel beklagen, womit sich Brauchpflege und Vereinsleben ganz allgemein kaum mehr aufrechterhalten lassen. Wenn alle nur noch zuschauen wollen, wird es tatsächlich über kurz oder lang wenig mehr zu erleben geben.

Die Ausstellung basiert auf den privaten Schätzen von 12 Sammlern und dem Archiv der Stadt Memmingen. Dazu gesellen sich zwei Dutzend zeitgenössische und internationale Positionen in Buch und Fotoserien.